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Jos de Mul. Zeitenwende. Wie die digitale Revolution unsere Wahrnehmung von Geschichte verändert. Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven. 59. Jahrgang, no. 3 (2009), 76

Der Computer ist eine Zeitmaschine. Er verwandelt unsere Wahrnehmung und er verändert unser Verständnis von Zeit. Mehr noch: Er untergräbt unser historisches Bewusstsein. Die digitale Welt revolutioniert unsere Zeiterfahrung.

In der westlichen Kultur ist das aus dem Altertum stammende zyklische Geschichtsverständnis unter Einfluss der christlichen Heilsgeschichte zunehmend der Überzeugung gewichen, dass sich Geschichte in einer unumkehrbaren, geradlinigen Bewegung vollzieht. Dieses historische Bewusstsein, das seinen Ursprung im 19. Jahrhundert hat, begreift die Wirklichkeit nur in ihrer chronologischen Entwicklung. In den Geisteswissenschaften interpretierte man Sprache, Moral oder Kunst aus ihrer Geschichte heraus. 

Aber auch in den Naturwissenschaften setzte sich die historische Herangehensweise durch. Darwins Evolutionstheorie ist hierfür ein Paradebeispiel. Materie, Leben und Bewusstsein lassen sich demnach nur anhand der Entwicklung erklären, die sie seit dem Urknall vor fast vierzehn Milliarden Jahren durchlaufen haben. Für moderne Menschen ist dieses Weltbild selbstverständlich und sie können sich schwer vorstellen, die historische Brille wieder abzusetzen. Dabei ist das historische Bewusstsein ein verhältnismäßig neues Phänomen und es ist fraglich, ob es das 21. Jahrhundert überleben wird. Denn in den Künsten, in den Wissenschaften und zunehmend auch in unserem Alltag entwickelt sich ein neues Gefühl. Der Motor dieser Entwicklung ist die Zeitmaschine Computer.

In der digitalen Welt ist Information nur noch lose mit ihrem materiellen Träger verbunden und kann deshalb einfach und schnell kopiert werden. Das hat allerhand Vorteile, macht es aber andererseits unmöglich, ein Gefühl für Geschichte zu empfinden, etwa wie wenn man einen vergilbten Brief mit seinem charakteristischen Geruch in Händen hält.

Diese neue Erfahrung beschränkt sich aber nicht nur auf den Umgang mit dem Computer, sondern betrifft auch ältere Medien. Vor einigen Jahren sah ich mir im Fernsehen eine Dokumentation über John F. Kennedy an, als die Freundin meiner 16-jährigen Tochter erklärte: "Den Schauspieler kenne ich, der hat auch in 'Forrest Gump' mitgespielt." Sie hatte diesen Film von 1994, in den historisches Filmmaterial kopiert wurde und in dem die titelgebende Hauptfigur dank kunstvoller Schnitt- und Collagetechnik allerlei Berühmtheiten trifft, als Zehnjährige auf Video gesehen. Es war ihre erste Begegnung mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten. Während Kennedy für meine Generation noch in erster Linie eine historische Persönlichkeit darstellt, ist er für ihre Generation, die inmitten digitaler Medien aufgewachsen ist, ein kulturelles "Gen", das auf unterschiedliche Art und Weise mit unzähligen anderen Elementen kombiniert werden kann. In der Popmusik kennt man diese Technik als Samplen. Da die Tonaufnahme wie auch die Fotografie und die Einstellung im Kinofilm immer häufiger mit digital bearbeiteten oder gänzlich computergenerierten Bildern, Animationen und Geräuschen vermischt werden, lässt sich immer schwerer feststellen, ob die Samples ihre Wurzeln in einer historischen Wirklichkeit haben. Selbst Nachrichten werden heute meist digital bearbeitet. So verschwimmt auch der traditionelle Unterschied zwischen den Genres. Davon zeugen neue Formate wie etwa das Reality-TV oder "fiktive" Dokumentarfilme.

Angenommen, es gibt in hundert Jahren noch immer Historiker, so muss man bezweifeln, dass sie dann in der Lage sein werden, auf der Grundlage eines Trägers festzustellen, was authentisch und was der digitalen Phantasie entsprungen ist – wenn sie überhaupt feststellen können, dass es sich um ein Produkt aus unserer Zeit handelt. Der digitale Archäologe der Zukunft wird Vergangenheit lediglich anhand der verwendeten Software rekonstruieren können.

In der digitalen Welt büßt der Unterschied zwischen "Original" und "Kopie" – und damit auch jener zwischen "früher" und "später" stark an Bedeutung ein. Während sich bei einem Gemälde oder einem auf Papier verfassten Brief das Alter des Originals und jenes der Kopie dank des materiellen Trägers recht genau ermitteln lassen, sind das digitale Original und seine Kopie qualitativ nicht voneinander zu unterscheiden. Die Musikindustrie kann davon ein Liedchen singen.

Die Verwirrung wird noch größer, wenn diese posthistorische Erfahrung auf die Realität übertragen wird. Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow hat einmal gesagt, für jemanden, der nur einen Hammer habe, sehe alles aus wie ein Nagel. In einer Kultur, deren wichtigstes Werkzeug der Computer darstellt, wird die ganze Welt zu einer Datenbank, deren Elemente nach Belieben kombiniert werden könen. Dem heutigen Stand der Neuropsychologie zufolge arbeitet unser Gedächtnis auf dieselbe Art und Weise. Erinnerungen sind nicht fix und fertig im Gehirn gespeichert, sondern werden jedes Mal auf Grundlage der vorhandenen "Datenbank" neu konstruiert.

Auch in der Molekulargenetik verliert die geschichtliche Abfolge an Bedeutung. Organismen werden als mehr oder weniger zufällige Neukombinationen von Bausteinen aus dem Genpool verstanden. Wo der Evolution zufolge das Entstehen und Aussterben biologischer Arten ein unumkehrbarer historischer Prozess ist, betrachtet das posthistorische Bewusstsein die tatsächliche Evolution als nur eine von unzähligen möglichen Konfigurationen des Genpools. Noch dazu als eine, an die wir dank genetischer Manipulationsmöglichkeiten nicht mehr gebunden sind.

Steven Spielbergs Film "Jurassic Park", in dem mithilfe konservierter DNA Dinosaurier wieder zum Leben erweckt werden, zeigt, welche posthistorischen Empfindungen diese Technologien heraufbeschwören. Auch wenn wir es hier nur mit einem Produkt aus der Hollywood-Traumfabrik zu tun haben – die tatsächliche Produktion von modifizierten Organismen, transgenen Lebensformen und anderen Hybriden ist in vollem Gang. Unsere Zukunft wird eine verwirrende Mischung aus historischen und posthistorischen Lebensformen zutage fördern. Auch der menschliche Körper verwandelt sich zunehmend in einen Träger posthistorischer Information.

Wenn etwa Personen, die mittels plastischer Chirurgie "rekombiniert" worden sind, ein unangenehmes Gefühl hervorrufen, liegt das weniger an den moralischen Zweifeln, die wir gegenüber solchen Eingriffen hegen, oder an einer ästhetischen Abwehrhaltung. Vielmehr läuft das, was wir sehen, dem historischen Bewusstsein zuwider.

Doch bereits lange vor dem Computerzeitalter ließen sich kubistische und surrealistische Collagen als eine Übung in posthistorischer Anordnung interpretieren. Der auf dem Prinzip der Montage basierende Film ist von allen analogen Kunstformen vielleicht jene mit den stärksten posthistorischen Zügen. In der Musik hat uns der Komponist John Cage wie kein anderer auf eine posthistorische Erfahrung vorbereitet. Als ein Zuhörer ihn nach einer seiner Zufallskompositionen verzweifelt fragte, ob seine Musik eigentlich noch einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende besäße, antwortete Cage: "Selbstverständlich, aber nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge." Auch in der Literatur treffen wir auf entsprechende Beispiele. Man denke nur an Jorge Borges’ Erzählung "Die Bibliothek von Babel" über eine posthistorische Bibliothek, in der neben allen existierenden auch alle noch möglichen Bücher versammelt sind.

Walter Benjamin prägte in den 1930er-Jahren den Unterschied zwischen dem Kulturwert und dem Ausstellungswert von Kunstwerken. Das vormoderne Kunstwerk war einmalig in Zeit und Raum. Um etwa die "Mona Lisa" von Leonardo da Vinci bewundern zu können, muss man sich in den Pariser Louvre begeben. Das änderte sich Benjamin zufolge aber durch das Aufkommen moderner Reproduktionsmittel. Von einer Radierung, einem Roman oder Film gab es plötzlich viele identische Exemplare. Der ästhetische Wert richtete sich jetzt nicht mehr nach dem Kulturwert, sondern nach dem Ausstellungswert, also nach der Art und Weise, wie das Werk in seiner reproduzierten Form ankommt.

Im digitalen Zeitalter ist der Manipulationswert eines kulturellen Produkts ausschlaggebend. So wie ein Text auf CD-ROM aufgrund erweiterter Suchmöglichkeiten wertvoller ist als auf Papier, so wird auch der ästhetische Wert eines Kunstwerks zunehmend von seinem Manipulationswert abhängen. Das hat auch wirtschaftliche Gründe, weil sich etwa zum digital manipulierbaren Film leicht ein Computerspiel produzieren lässt. Der ästhetische Wert des posthistorischen Kunstwerks indes bemisst sich an dessen Vermögen, immer neue Formen anzunehmen. Zukünftig werden wir aus der Sehnsucht nach Einmaligkeit vielleicht gegen die digitale Manipulierbarkeit kämpfen.

Wem angesichts der posthistorischen Zukunft mulmig wird, der kann sich vielleicht mit dem Gedanken trösten, dass diese die historische Erfahrung nicht völlig verdrängen wird. Auch die lineare Geschichtsauffassung ersetzte die zyklische Zeiterfahrung nicht vollständig. Tag-und-Nacht-Rhythmus oder der Kreislauf der Jahreszeiten blieben wichtig. Und auch der posthistorische Mensch wird in der digitalen Welt noch mit dem historischen Lauf der Dinge konfrontiert. Spätestens bei seinem Tod.

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